Wie die Schmuckfrage die Geschichte von Dohnavur prägte

Kapitel 3: „Um allen Seinen Wünschen entgegenzukommen“ (Kol. 1,10a)

An einem Abend, es war gegen Ende des Jahres 1898, waren drei indische Schwestern mit mir auf dem Heimweg von einer Stadt, die heute noch dem Götzendienst ergeben ist. In dem Fluss, der an der Stadt vorüberfließt, hatte eben Missionar Walker von Tinnevelly einen jungen Mann, der später ein kraftvoller Zeuge für den ganzen Distrikt werden sollte, getauft, während von den flachen Dächern ihrer Häuser Gruppen von Brahmanen missbilligend zuschauten. Dieser junge Christ hatte uns gebeten, seine Frau mit uns nach Hause zu nehmen und sie zu unterweisen, wie man Seelen gewinne. Er folgte unsrem Fuhrwerk, das langsam dahinkroch, und indem er dicht an die Öffnung herantrat, sagte er zu seiner Frau: „Gib mir deinen Schmuck! Was braucht ein Seelengewinner noch Schmuck?“ Die junge Frau löste ihre Ketten, Ohrringe und Armbänder und gab sie ihm mit unterdrücktem Staunen. So einfach war der Anfang dessen, was man später die „Schmuckfrage“ nannte. Denn in dem Augenblick, als die Frau ihrem Mann den Schmuck übergab, bemerkte ich einen Ausdruck von gespanntem Interesse auf Ponnamals Gesicht. (Mehr dazu in ihrer Lebensgeschichte.)

An dem Abend vorher, während sie in der Freiversammlung sprach, hörte sie, wie ein Kind zu seiner Mutter sagte, wenn es einmal groß sei, wolle es „der Missionsgesellschaft beitreten und Schmuck tragen, wie jene Schwester“. Die Worte waren ein Schlag für Ponnamal. Das war ja nicht der Eindruck, den sie auf irgendjemand machen wollte. Sie war damit zu ihrem Herrn gegangen, und ihr war die Antwort geworden: „Du wirst eine Ehrenkrone in der Hand des Herrn und ein königlicher Kopfbund in deines Gottes Hand sein.“

Sie deutelte nicht über den Sinn dieser Worte. Wie im Blitzlicht sah sie sich selbst schmucklos, eine gezeichnete Frau unter ihrem Volk, ein Ärgernis, ein Anstoß für jede Auge, nicht aber für den Herrn, ihren Gott – und dieser Gedanke brachte ihr überschwängliche Freude.

Als wir nasch Hause kamen, legte sie ihren Schmuck ab. Wie unbedeutend, wie harmlos erscheinen diese Worte jetzt in einem kurzen Satz, aber für Ponnamal und für uns, die wir ihr zur Seite standen, war es eine tiefgreifende Entscheidung.

Wenige, sehr wenige nur, erfüllt von Gottes Liebe, begierig, dem Geist dieser Welt zu trotzen und die Dinge dieser Welt zu verlassen, machten sich frei von jedem Gewicht, von jeder Last, um unbeschwert den Lauf zu laufen, der ihnen verordnet war. Aber für die vielen überraschten und empörten Augen, die zuschauten, war es ein unerhörtes Ding. Ein Mädchen, welches darüber einen schweren Kampf gekämpft hatte, sagte mir, sie sei früher nie eingeschlafen, ohne ihre Hand auf die goldenen Ketten gelegt zu haben, die ihren Hals schmückten. „Hätte ich meinen Heiland mehr geliebt, so hätte ich meine Kleinodien weniger geliebt“, sagte sie. Die letzte von ihnen, die diesen schweren Entschluss fasst, ging nachher durch eine Zeit großer Nöte. Ihre Leute nahmen sie uns weg und sie hatte viel zu leiden. (Tatsächlich wurde sie langsam zu Tode gequält von ihrem „christlichen“ Mann!) Wir berührten diese Schmuckfrage nie, außer wenn man uns persönlich zur Rede stellte, aber es schien, als ob alles, was man damals sprach, dieses Problem streifte.

Wie lebhaft erinnere ich mich einer Nachmittagsveranstaltung auf dem Land. Das Haus war voll, denn wir waren mitten in einer Evangelisation, und für indische Christen sind Versammlungen eine wahre Wonne. Dicht vor mir saßen Reihen von mit Schmuck überladenen Frauen, denn das Dorf war reich. Mir aber war es an jenem Tage geschenkt worden, den gekreuzigten Heiland zu schauen.

Irgendein Gedanke an das goldene Spielzeug der Frauen lag mir völlig fern; mich umgab die Ewigkeit, und der schlichte, kleine Bau war nichts anderes als der Vorhof des Himmels. Während ich sprach, erhob sich eine Frau. Sie sagte mir nachher, sie hätte es nicht mehr länger aushalten können. Wie klein erschien ihr die Welt und ihre Verachtung, wie gering die armen Kostbarkeiten dieser Zeit! „Ich sah Ihn“, sagte sie, „in tiefster Entblößung und Schmach, aller Herrlichkeiten dieser Welt bar, und ich ging hin und machte aus all meinem Stolz einen Aschenhaufen“. Dies war „Perle“, die später meine Schwester, Mitarbeiterin und Waffengenossin werden sollte.

Diese neue Hingabe im Gehorsam brachte ungeheure Veränderungen mit sich. Was man bis dahin für unmöglich hielt, wurde jetzt ganz selbstverständlich unternommen. Die Frauen schienen befreit von tausend Netzen, die ihre Füße mit unsichtbaren Fäden festgehalten hatten. Gibt es eine Grenze für das, was Gott zu tun bereit ist für Sein Kind, das Seinen Sohn lieb genug hat, um Seinem leisesten Wunsch zu begegnen? „Nach diesen Dingen“ – dem Verzicht auf eigene Wahl – „kam das Wort des Herrn zu Abraham und sprach: Fürchte dich nicht, Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn.“ Nach diesen Dingen – waren es nicht die gleichen? – galt hier auch das gleiche Wort.

Fünfzehn Jahre später, als Ponnamal langsam an einem schweren Krebsleiden dahinstarb, sprach sie von jenen Tagen. „Für mich war es ein Gefühl geistlicher Befreiung“, sagte sie; „ich lebte in dem Bewusstsein einer neuen Freiheit und auf ganz unerwartete Weise wurde jedes Gebiet meines Lebens davon berührt; mein Geist wurde frei. Ich hätte die neue Arbeit (für die Tempelkinder) niemals tun können, wenn mir durch jenen Bruch mit alten Gewohnheiten und mit der Menschenfurcht nicht neuer Mut geschenkt worden wäre.“

Der Vater eines jung bekehrten Mädchens hatte seiner Tochter erlaubt, einige Zeit bei uns zu verbringen. Er war ein feiner Charakter, aber als er hörte, was bei uns geschah, ließ er ihr sagen: „Sobald ich höre, dass du deinen Schmuck abgelegt hast, hole ich dich.“ Arulai wusste, dass, sobald er sie zurückholte, sie mit einem Hindu verheiratet werden würde. Solch ein Leben wäre für sie der Tod gewesen. Es war ein gewaltiger Entschluss, den sie an jenem Tag am Fuß des Kreuzesstammes fasste, aber sie ließ sich von niemand wankend machen. Sie hatte ihren Geliebten, ihren Erlöser geschaut. Auf seiner Stirn war keine Krone von Gold, sondern von Dornen. Seine Hände und Füße waren nicht geschmückt, sondern durchbohrt. Sie hatte Ihn gesehen. Konnte sie Ihm folgen in ihrem Goldschmuck?

[…]

So viele Worte um solche Kleinigkeiten? Für die christlichen Gemeinden schienen es damals keine Kleinigkeiten zu sein. Es wurden viele Predigten darüber gehalten. Die Tagespresse veröffentlichte Artikel über diesen Gegenstand, und von einer Grenze zur andern hallte der ganze Distrikt wider von unglaublichen Gerüchten über das, was wir getan hatten, wir, deren Einfluss verantwortlich war für die ganze, bedauernswerte Geschichte. Denn nicht einer erkannte die Hand Gottes, die sich auf den Schmuck der Frauen gelegt hatte, und die Männer, deren Ansehen es beeinträchtigte, waren außerordentlich ärgerlich, denn je mehr Schmuck, desto mehr Ehre für die Familie.

Mitten in den Tumult dieser erregten Gefühle kam im Februar 1899 F. B. Meyer von England. Er wohnte bei uns. Wir erzählten ihm nichts von dieser Sache. Meistens erwartet man keine große Tiefe von Missionaren, die durch Dolmetscher sprechen. Sie predigen großen Versammlungen, werden sehr geschätzt und bei ihrem Abschied von allen gepriesen. Aber F. B. Meyer waren die geschmückten christlichen Frauen von Südindien aufgefallen. Er hatte auch offen von Kastenwesen und Schuldenmachen gesprochen, beides heikle Gebiete. Und als er darauf drang, dass das ganze Opfer auf den Altar gelegt werden möchte, nannte er beides als Hindernis, anstatt diese praktischen Dinge zu umgehen und das zu halten, was man ganz Indien gernhat, „eine geistliche Ansprache“. Seine Worte waren ein Ärgernis. Sein empfindsamer Geist fühlte dies schmerzlich. Nach Jahren schrieb er uns, er sei durch schwere Anfechtungen gegangen im Blick auf jene Reihe von Versammlungen. Kein Wunder! Er hatte offene Worte gesprochen, und solche offenen Worte vergibt der Teufel nicht.

Über uns, die wir nach dieser unvolkstümlichen Evangelisation den Anprall aller Vorwürfe zu tragen hatten, kam eine große Ruhe. Wir sahen jetzt den Weg klar vor uns. Es blieb uns nur das eine, auf diesem Weg weiterzugehen. Zwei oder drei andere Missionare und einige indische Christen waren im Geist mit uns eins, und das war eine Ermutigung. Aber wir lernten es, weiterzugehen, unberührt von Beifall oder Missfallen; denn die Angelegenheit des Schmuckes war nur ein Punkt in einer ganzen Reihe von Proben und Erziehungswegen, und wir erlebten die Wahrheit eines Wortes, das wir erst später lasen: „Es ist immer wieder ein neues Gebiet in unsrer Natur, auf das Er das Zeichen des Kreuzes drücken will.“

So legte der himmlische Baumeister die Grundlagen unsrer Gemeinschaft durch den Gehorsam in ganz kleinen Dingen und durch jenes Eingehen auf Seine Wünsche, das nicht auf einen ausdrücklichen Befehl wartet: Für den, der lieb hat, genügt ein Wunsch. Und weil seine Weisheit diesen Weg für uns wählte, schien es mir das richtige, ganz einfach zu erzählen, wie alles kam.

Ja, deshalb habe ich es erzählt. Aber eine Frage erhebt sich und will sich nicht abweisen lassen: Was würde es für uns bedeuten, wenn wir alle, die wir ein anderes, ein besseres Vaterland suchen, hier unten mehr als Pilger lebten? Jene kleinen indischen Gaben von Gold verwandelten sich in goldene Gaben der Hilfe für eine entfernte chinesische Provinz. Der Herr, vor dessen Augen nicht nur alle Lande wie eine aufgeschlagene Karte liegen, sondern auch die verborgene Armut irgendeines kleinen Hauses in unsrer Nähe, möchte uns zeigen, wo Er unsrer Kostbarkeiten bedarf, die jetzt nutzlos daliegen wie ein Schatz von Samen, der nicht ausgesät wird.

Quelle

Carmichael, Amy: Die goldene Schnur (deutsche Ausgabe von 1934, Brunnen-Verlag Gießen und Basel)

Ort in Quelle

Seite 10-16

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