Die böse und die gute Schwiegermutter (W. Busch)

»Herr Pfarrer, Sie müssen meiner Tochter mal ins Gewissen reden!«, jammerte die Frau. Händeringend saß sie vor mir. Ich kannte sie gar nicht. In meinen Gottesdiensten jedenfalls hatte ich sie nie gesehen. Mit ihrer geschwätzigen Art machte sie einen unguten Eindruck auf mich. »So? Ihre Tochter ist auf bösen Wegen? Was hat sie denn getan?« »Oh, Sie müssen ihr mal ins Gewissen reden! Jeden Abend steht sie in der Haustür mit einem jungen Mann.« Ich musste lachen: »Das ist der Lauf der Welt. Ich denke, sie wird Ihnen den jungen Mann eines Tages in die Wohnung bringen und …« Weiter kam ich nicht. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und rief: »Nie darf mir der Kerl in die Wohnung kommen! Ich bin froh, dass ich ihn los bin!« Ich staunte: »Sie kennen den jungen Mann?« »Aber natürlich! Meine Tochter war ja mit ihm verheiratet.« »Ihre Tochter war mit ihm verheiratet? Und jetzt steht sie mit ihm des Abends vor der Haustür? Das verstehe ich nicht!« »Ja, meine Tochter ist doch von ihm geschieden. Ich habe meiner Tochter gleich gesagt, als sie ihn das erstemal anbrachte: Der ist nichts für dich!« »Und da hat Ihre Tochter ihn doch geheiratet?« »Leider!«, klagte die Frau. »Ich hab‘ sie immer gewarnt.« »Aber wenn Ihre Tochter mit ihm verheiratet ist, braucht sie doch mit ihm nicht vor der Haustür zu stehen.« »Na, verstehen Sie doch! Sie hat sich dann doch von ihm scheiden lassen!« »Ach so! Sie hat sich scheiden lassen, weil Sie das wollten. Und jetzt zeigt sich, dass die beiden sich doch zu lieb haben. Und nun treffen sich die Geschiedenen wie ein heimliches Liebespaar? Ist es so?« Die Frau nickte. Das war ja eine komische Geschichte! Da musste ich noch ein wenig klarer sehen. So fragte ich: »Warum mochten Sie den jungen Mann nicht? Ist er faul? Trinkt er? Misshandelt er seine Frau? Verpulvert er das Geld?« Sie schüttelte den Kopf. »Nee, das ist es nicht. So ist er ja ganz ordentlich. Nur – ich wollte ihn nicht. Er ist doch bloß Bergmann. Und meine Tochter ist hübsch. Die konnte was Besseres kriegen.« Da war’s um meine Fassung geschehen. Jetzt wusch ich der Alten den Kopf, dass sie ganz klein wurde. Und dann ging ich mit ihr zu der Tochter. Ich fand eine nette junge Frau. Und da erfuhr ich dann, wie sehr sie ihren Mann liebte, aber unter dem Einfluss der Mutter die Scheidung betrieben hätte. Doch nun – ja, nun stellte sich heraus, dass sie und ihr Mann das sehr bereuten. Und sie wüssten nicht, was sie tun sollten. Kurz und gut: Ich sorgte dafür, dass die beiden eine eigene Wohnung fanden und aus dem Einfluss der Mutter herauskamen. Sie haben wieder geheiratet und sind recht glücklich miteinander geworden. Wer einmal den vielen Ehescheidungen auf den Grund sehen könnte, der würde erschrecken, wie der Teufel oft die nächsten Angehörigen benutzt, um Eheleute auseinanderzutreiben. Da wird gehetzt und gestochert, bis so ein armes Weiblein glaubt, es sei betrogen, oder bis so ein armer Mann sich einbildet, er sei an die Falsche geraten. Darum lobe ich mir die wackere Frau, von der ich jetzt noch erzählen will. Da lebte in Frankfurt am Main eine Witwe, die sich mit ihren heranwachsenden Kindern mühsam durchschlug. Eines Tages brachte ein Telegramm Aufregung in die Wohnung. Der älteste Sohn, der fern von zu Hause war, teilte mit: »Habe mich verlobt. Komme übermorgen mit meiner Braut.« Da war zuerst betretenes Schweigen. Hätte dieser Sohn nicht vor allem für seine Mutter und für seine Geschwister sorgen sollen? Und – wie war denn nun diese Braut? Niemand kannte sie. Etwas beklommen ging man an dem Abend auseinander. Die Mutter aber war eine rechte Christin. Sie schüttete in der Nacht ihr Herz dem Herrn aus. Und am nächsten Morgen versammelte sie alle um sich und sagte: »Jetzt gebe ich ein strenges Gebot. Ihr sollt euch nur freuen mit eu-rem Bruder und die neue Schwester mit Liebe aufnehmen. Und jetzt das Wichtigste: Ich will, dass wir alle nur das Gute an dem Mädchen sehen. Sollte jemand von euch einen Fehler entdecken an ihr, dann darf man mit niemand darüber sprechen. Dann sagt ihr das nur Gott.« Währenddessen saß das Brautpaar in der Bahn. Dem Mädchen war es schwer ums Herz: Wie würde sie bestehen vor den kritischen Blicken der Schwägerinnen, von denen ihr Geliebter so viel Rühmliches zu berichten wußte? Aber von der freudigen Begrüssung an waren alle Sorgen verflogen. Es umgab sie eine solche Liebe und Herzlichkeit, dass sie ihr Herz ganz öffnete und namentlich ein unbegrenztes Vertrauen zu der Mutter ihres Bräutigams gewann. Liebe und Frieden regierten. Und sie sind geblieben – nun seit über dreißig Jahren. Warum soll ich es verschweigen? Die Witwe, die so lieb und weise handelte, war – meine Mutter.

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