Amy Carmichaels Schlüsselerlebnis in Belfast

Es war an einem trüben Sonntagmorgen auf einer Straße in Belfast […]. Meine Geschwister und ich kamen mit unsrer Mutter aus der Kirche und begegneten unterwegs einer armen, alten Frau, die ein schweres Bündel trug. So etwas hatten wir in dem kirchlichen Belfast am Sonntag noch nie erblickt und von plötzlich aufsteigendem Mitleid bewegt, gingen meine Brüder mit mir auf sie zu, nahmen ihr das Bündel ab, fassten sie bei den Armen, als wären sie Henkel, und halfen ihr weiter. Dies setzte uns in Gegensatz zu all den ehrbaren Leuten, die, wie wir selbst, auf dem Heimweg von der Kirche waren. Es war ein schauderhafter Augenblick. Wir waren nur zwei Jungen und ein Mädchen und gar keine erhabenen Christen. Es war uns schrecklich, es zu tun. Puterrot (so fühlten wir uns wenigstens nach Leib und Seele) trotteten wir weiter; ein feuchter Wind wehte uns entgegen, der zugleich die Lumpen der alten Frau aufblies, bis sie wie ein Federbündel aussah, in das wir unglücklicherweise mit verwickelt wurden. Aber in dem Augenblick, als wir an einem Brunnen vorbeigingen, den man kürzlich neben dem großen Prellstein gebaut hatte, war es, als klinge mir durch den grauen Sprühregen plötzlich dieses mächtige Wort entgegen:

Gold, Silber, kostbare Steine, Holz, Heu, Stoppeln – eines jeglichen Werk wird offenbar werden: der Tag wird’s klar machen. Denn es wird durchs Feuer offenbar werden; und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer erproben. Wird jemandes Werk bleiben…

Wird jemandes Werk bleiben! Ich wandte mich um, nach der Stimme zu sehen, die zu mir gesprochen hatte. Wohl sah ich den Brunnen, die schmutzige Straße, die Leute mit ihren höflich überraschten Gesichtern, aber ich sah sonst nichts. Der blendende Blitz war gekommen und gegangen; uns umgab nur noch das Alltägliche. Wir gingen weiter. Ich sprach nicht über das, was ich erlebt hatte. Das aber wusste ich, etwas war geschehen, das für mich die Werte des Lebens umgewandelt hatte. Von nun an konnte nichts mehr wichtig sein als das, was ewig ist.

(Lies hier, wie Gott das Leben dieses Mädchens in den späteren Jahren gebrauchte.)

 

Quelle

Carmichael, Amy: Die goldene Schnur (deutsche Ausgabe von 1934, Brunnen-Verlag Gießen und Basel)

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Seite 2-3

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